Entwicklungstrauma und Psyche

Fragen, denen wir hier folgen:

  • Was ist unser Verständnis von Entwicklungstrauma?
  • Welche Wirkungen haben entwicklungstraumatisierende Erfahrungen auf das psychische System?

Was ist unser Verständnis von Entwicklungstrauma?

Unter einem Entwicklungstrauma verstehen wir ein Komplex tiefgreifender, nachteiliger Veränderungen der Persönlichkeit eines Kindes, hervorgerufen durch eine entbehrungsreiche, gewalttätige, bedrohliche und verunsichernde Umwelt, in der das Kind in den ersten fünf Lebensjahren über längere Zeit aufwachsen musste (in dieser Umwelt gefangen).
Das heißt, entwicklungstraumatisierte Kinder und Jugendliche sind in einer Zeit, in der sie am verletzlichsten und im besonderen Maße auf die Unterstützung von liebevollen Erwachsenen angewiesen waren, vernachlässigt und misshandelt worden.
Besonders schwer wiegt der Umstand, dass diese destruktive Umwelt überwiegend von Menschen erzeugt wird, von denen das Kind eigentlich Schutz, sowie Hilfe erwartet, und an denen es emotional prägend gebunden ist. Durch diesen Widerspruch zwischen Erwartungen und Realität erleben diese Kinder eine zusätzliche starke Belastung.
Die Psyche von Kindern reagiert darauf mit zwei wesentlichen Anpassungsmustern. Entweder sie ordnet sich bis zur Selbstaufgabe unter (introvertierte Persönlichkeitsmuster) oder die Kinder entwickeln ein destruktives Selbstständigkeits- und Unabhängigkeitsstreben. Die hauptsächlichen Persönlichkeitsmuster stellen sich wie folgt dar:

introvertiertes Persönlichkeitsmuster – Selbstaufgabe

  • sind unsicher, gehemmt und antriebslos
  • verschlossen
  • nicht selten sich selbst vernachlässigend und selbstschädigendes Verhalten
  • in besonderen Maß angepasst und hörig (brav bzw. „pflegeleicht“)

extrovertiertes Persönlichkeitsmuster – destruktiver Verselbstständigung

  • im besonderen Maße bestrebt autonom zu handeln
  • Bedürfnisse haben einen hohen Stellenwert, werden mit allen Mitteln und möglichst zeitnah durchgesetzt
  • Antrieb primär von Lust und Unlust bestimmt
  • permanent absuchende Aufmerksamkeitshaltung
  • ablehnende Haltung zu Erwachsen (nur Mittel zum Zweck)
  • „kampferprobt“ und schwer erziehbar

Im System der Hilfen zur Erziehung und damit auch im stationären Setting, erleben wir vor allem Kinder mit extrovertiertem Verhaltensmustern in unterschiedlichen Ausprägungen.

Welche Wirkungen haben entwicklungstraumatisierende Erfahrungen auf das psychische System?

Nach unserem Verständnis ist die Psyche vergleichbar mit einer Software, die ein komplexes und lebendiges System steuert (einen Zellverband von etwa 30 Billionen Zellen). Ihre substanzielle Grundlage findet sie vordergründig in unseren Nervenzellen, von denen wir als Erwachsene etwa 86 Milliarden besitzen. Diese Ansammlung kann man sich annähernd wie winzige Computer vorstellen, die miteinander vernetzt sind und somit kommunizieren. Daher kann ein einzelnes Neuron mit tausenden anderer Neuronen in Kontakt stehen. Unsere Psyche kann demzufolge als das Ergebnis der Interaktion eines gigantischen Netzwerkes von Nervenzellen betrachtet werden.

Psyche scheint spätestens dann zu entstehen, wenn sich Zellen zu einem gemeinsamen, lebendigen System (autopoietisches System) zusammenschließen und neben dem Prozess der Selbsterschaffung (Entwicklung) auch der Prozess der Selbsterhaltung organisiert werden muss. Den neuesten Erkenntnissen zufolge besitzt sogar jede einzelne Zelle bereits eine eigene Art Steuersoftware. Mit dem Zusammenschluss der beiden Geschlechtszellen Eizelle sowie Spermium zur Zygote, entsteht die spezifisch, menschliche Psyche als das entscheidende Programm, welches von nun an die Organisation des zunehmend wachsenden Systems übernimmt. Hierbei ist das übergeordnete Ziel einen gemeinschaftsfähigen Menschen zu erschaffen.

Im Leben eines Menschen besitzt das psychische System folgende zentrale Aufgaben:

  • Selbsterhaltung und Stabilisierung

Die Psyche strebt unter normalen Umständen an, das lebendige System in einer förderlichen inneren Struktur und Organisation zu halten. Dies geschieht durch einen optimierten Austausch von Stoffen, Energien sowie Informationen. Das heißt, wir befinden uns in einem „inneren Gleichgewicht“ und spüren eventuell eine innere Zufriedenheit.

  • Entwicklung

Die Psyche besitzt die Fähigkeit sich und damit den Organismus zu verändern sowie sich den Umweltbedingungen und internen Zielen (individuelle Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen) anzupassen. Auf diese Weise entstehen neue Eigenschaften, z.B. in Form von neuronalen Netzwerken und darauf aufbauenden Kompetenzen.

  • Sicherung von autonomen Handeln

Die Psyche ist bestrebt, in der aktuellen Umwelt autonomes Handeln sicherzustellen. Das heißt, sie ist bemüht die Versorgung von Stoffen, Energien sowie Informationen entsprechend des aktuellen inneren Bedarfs, unmittelbar, effektiv und effizient abzudecken. Als Menschen müssen wir zunächst lernen Bedürfnisse aufzuschieben oder sie zu ignorieren. Dies kann die Psyche erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und aufgrund zentraler Erfahrungen leisten. Wir spüren dann eine Art Gewissen bzw. können uns bewusst steuern.

Neben diesen zentralen Aufgaben folgt das psychische System grundlegende Funktionsprinzipien, um diese zentralen Aufgaben zu bewältigen.

So scheint das generelle Lernprinzip darin zu bestehen, dass als förderlich registrierte Prozesse und Verhaltensmuster fortgesetzt bzw. wiederholt werden und im Umkehrschluss alles, was unvorteilhaft erscheint, unterlassen wird. Ein weiteres wesentliches Funktionsprinzip der Psyche scheint es zu sein, auch unter sehr widrigen Umweltbedingungen, ihrem Auftrag nachzukommen und die wesentlichen Aufgaben (wie Selbsterhaltung, Entwicklung sowie autonomes Handeln) bestmöglich zu realisieren. Wie wir später sehen werden, geschieht dies durch eine funktionale Umorganisation psychischer Prozesse, die wir in unserer Arbeit speziell in Form von Verhaltensauffälligkeiten wahrnehmen. Nicht zuletzt ist der Umstand wichtig, dass sich individuelle Erfahrungen so auf das psychische System auswirken können, dass spezielle psychische Zustände, wie das generelle Erregungsniveau durch epigenetische Prozesse, immer wieder auf dem gleichen Niveau stabilisiert werden.

Die Aufgaben und die Funktionsprinzipien werden täglich durch unser psychisches System bewältigt sowie angewandt. Sie sind daher von Beginn an darauf ausgerichtet, einen Menschen zu entwickeln, der selbstständig innerhalb seiner gegebenen Umwelt leben kann. In unserer individualgeschichtlichen Entwicklung muss das psychische System dazu unterschiedliche Entwicklungsstufen bzw. Entwicklungsaufgaben meistern. Das heißt auch: die Psyche muss sich selbst entwickeln. Je besser dies gelingt, desto besser sind die Aussichten darauf, die drei zentralen Aufgaben bewältigen zu können. Wie bekannt, geschieht dieser Prozess nach einer inhärenten Logik. Es gibt besonders in den ersten Lebensjahren Zeitfenster, in denen die Psyche bestrebt ist, sich etwas ganz Spezifisches, wie bspw. das Krabbeln, das Laufen, die Sprache, das Spiel, etc. anzueignen.

Damit die spezifischen Entwicklungsaufgaben gut bzw. ausreichend  gemeistert werden können, ist die Psyche des Menschen auf Unterstützung anderer Menschen angewiesen (Sozialisation). Von jenen Menschen wird, besonders zu Beginn, Schutz und Unterstützung sowie die Bereitstellung einer sicheren und gehaltvollen Umwelt, entsprechend des Entwicklungsbedarfs, erwartet. Um soziale Unterstützung zu organisieren besitzt der Organismus, angeborene Verhaltensmuster, wie das Drei–Monatslächeln, die sich nach bestätigten Erfahrungen in Kommunikationsmuster wandeln und gezielt, aber unbewusst eingesetzt werden. Psychische Vorgänge setzen sich, aus der Perspektive des einzelnen Menschen, immer aus bewussten und unbewussten Prozessen zusammen. Der weitaus größere Teil von psychischen Aktivitäten (mehr als 90 Prozent) findet für uns unmerklich und damit unbewusst statt. Bewusstsein und damit der Beginn eines bewussten, gesteuerten Kontrollverhaltens scheint erst in der frühen Kindheit, etwa im 3. Lebensjahr, zu beginnen.

Die Aufgaben und die Funktionsprinzipien werden täglich durch unser psychisches System bewältigt sowie angewandt. Sie sind daher von Beginn an darauf ausgerichtet, einen Menschen zu entwickeln, der selbständig innerhalb seiner gegebenen Umwelt leben kann. In unserer individualgeschichtlichen Entwicklung muss das psychische System dazu unterschiedliche Entwicklungsstufen bzw. Entwicklungsaufgaben meistern. Das heißt auch: die Psyche muss sich selbst entwickeln. Je besser dies gelingt, desto besser sind die Aussichten darauf, die drei zentralen Aufgaben bewältigen zu können. Wie bekannt, geschieht dieser Prozess nach einer inhärenten Logik. Es gibt besonders in den ersten Lebensjahren Zeitfenster, in denen die Psyche bestrebt ist, sich etwas ganz Spezifisches, wie bspw. das Krabbeln, das Laufen, die Sprache, das Spiel, etc. anzueignen.Um die spezifischen Entwicklungsaufgaben gut bzw. ausreichend zu meistern, ist die Psyche des Menschen auf Unterstützung anderer Menschen angewiesen (Sozialisation). Von jenen Menschen wird, besonders zu Beginn, Schutz und Unterstützung sowie die Bereitstellung einer sicheren und gehaltvollen Umwelt, entsprechend des Entwicklungsbedarfs, erwartet.Um soziale Unterstützung zu organisieren besitzt der Organismus, angeborene Verhaltensmuster, wie das Drei–Monatslächeln, die sich nach bestätigten Erfahrungen in Kommunikationsmuster wandeln und gezielt, aber unbewusst eingesetzt werden. Psychische Vorgänge setzen sich, aus der Perspektive des einzelnen Menschen, immer aus bewussten und unbewussten Prozessen zusammen. Der weitaus größere Teil von psychischen Aktivitäten (mehr als 90 Prozent) findet für uns unmerklich und damit unbewusst statt. Bewusstsein und damit der Beginn eines bewussten, gesteuerten Kontrollverhaltens scheint erst in der frühen Kindheit, etwa im 3. Lebensjahr, zu beginnen.

Das psychische System von entwicklungstraumatisierten Kindern und Jugendlichen muss im Unterschied zu dem anderer Menschen, seine zentralen Aufgaben unter destruktiven Bedingungen erfüllen. Es hat u.a. folgende Erfahrungen zu verarbeiten:

  • massive Angst verletzt zu werden (Gefahr für Leben und Gesundheit)

Beispielsweise erleben die Kinder lautstarke, sich wiederholende Androhungen, sie zu schlagen, ihnen mit dem Messer ein Körperteil abzuschneiden bzw. sind bei gewalttätigen Auseinandersetzungen ihrer Eltern anwesend oder sogar involviert.

  • außergewöhnliche körperliche und seelische Schmerzen

So werden die Kinder zum Beispiel mit der Hand oder Gegenständen an unterschiedlichen Stellen des Körpers geschlagen. Sie werden vor eine Wand geworfen, vor eine Tischkante geschlagen oder die Hand auf die Herdplatte gelegt.

  • Mangel an ausreichender Versorgung

Entwicklungstraumatisierten Kindern fehlt oftmals eine regelmäßige und einigermaßen gesunde Ernährung, genügend Schlaf sowie ausreichender Schutz vor Kälte und Nässe.

  • Mangel an Sicherheit

Dadurch, dass Bindung ein prägender Prozess ist, hat die Psyche bestimmte Erwartungen, in Form von Zuwendung und Unterstützung, an die dazugehörigen Personen. Durch ignorante, bedrohliche sowie verletzende Kommunikations- und Interaktionsmuster der Bezugspersonen entstehen andere Erfahrungen, die diesen angeborenen Erwartungen widersprechen und das psychische System verstören.

  • Hohes Maß an Ambivalenz im Erziehungsverhalten der Bezugspersonen

Entwicklungstraumatisierte Kinder leben in einer Umwelt, in der sie schwer Sicherheit und Orientierung finden. Das Verhalten ihrer Bezugspersonen ist nicht vorhersehbar. Das gleiche Verhalten kann unterschiedliche Reaktionen auslösen. Für die Psyche bedeutet dies ein hohes Maß an Verunsicherung sowie Vertrauensverlust in erwachsene Menschen. Gleichzeitig fehlt es diesen Kindern an einer angemessene, förderliche Anregung und Unterstützung, um insbesondere in den ersten fünf Lebensjahren ihre Entwicklungsaufgaben zeitgerecht, sowie erfolgreich zu meistern.

Nach unserer Anschauung folgt das psychische System, auch unter widrigen Gegebenheiten, seinen Funktionsprinzipien und versucht seine zentralen Aufgaben zu bewältigen. Dies bedeutet, dass die Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsdefizite entwicklungstraumatisierter Kinder sowie Jugendlicher Resultate von funktionalen Anpassungs- und Umorganisationsprozessen des psychischen Systems sind. 

Zu den zentralen Umorganisationsmustern, denen alle Erscheinungsformen von problematischen Verhaltens- und Erlebensweisen, der uns anvertrauten Kinder sowie Jugendlichen zugrunde liegen, gehören u.a. die Folgenden:

  • hohes Autonomiestreben, da die Kinder auf sich allein gestellt sind und das Vertrauen in Erwachsene verloren haben, verbunden mit einem hohen Maß an Instrumentalisierung
  • ein sehr sensibles Stressreaktionssystem, welches auf eher archaische, effiziente und damit unbewusste Verhaltensmuster von Angriff und Flucht zurückgreift
  • eine über den Tag hinweg bestehende, also permanente, „absuchende Aufmerksamkeit“, ähnlich dem eines Tieres in der freien Wildbahn
  • ein hohes Maß an Überangepasstheit und demütiges Verhalten, welches sich darin äußert, dass die Kinder sowie Jugendlichen kaum bemerkbar sind, darauf warten, dass ihnen gesagt wird, was sie jetzt tun sollen und kaum Wünsche offenbaren. (Diese Verhaltensmuster haben wir sehr selten in unserer Arbeit erlebt. Unter anderem wahrscheinlich auch deshalb, weil diese Kinder und Jugendlichen als kaum problematisch wahrgenommen werden und deshalb noch weniger als Andere eine, für sie geeignete, Hilfe bekommen.)
Aufgrund dieser Überlegungen betrachten wir die Probleme der Kinder sowie Jugendlichen, insbesondere ihre Verhaltensauffälligkeiten, nicht als das Produkt eines verletzten psychischen Systems, sondern im Gegenteil, als eine funktionale Lösungsvariante, um die eigenen inhärenten Aufgaben bewältigen zu können.

Fragen, denen wir als nächstes folgen:

  • Worin sehen wir die Funktion unseres sozialpädagogischen Arbeitsfeldes?
  • Welche zentralen sozialpädagogischen Aufgaben müssen wir meistern, um eine bestmögliche Entwicklung sicherstellen zu können?