Zwei Lebensgeschichten

Als Einstieg in das Thema haben wir uns für die Kurzbeschreibung der Lebensgeschichte und des Zustandes zweier Kinder, so wie sie zu uns gekommen sind, entschieden.  Wir möchten dadurch gleich zu Beginn auf die Herausforderungen unseres Arbeitsfeldes verweisen und einer verklärten Sichtweise entgegenwirken.

 

Portrait 1 – Justin

Justin kam im Alter von 11 Jahren zu uns auf den Kinderbauernhof und hatte jede Menge Helfersysteme erlebt:

Im Alter von vier Jahren erlebte Justin die Krebserkrankung und den Verlust seiner Mutter, als einziges Kind seiner Eltern, mit. Der Vater, der den Jungen nie gewollt hatte, zog wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau bei seiner Nachbarin ein, die ab diesem Zeitpunkt seine neue Lebensgefährtin war und für Justin als „Mutter“ sorgen sollte. Der Vater war tagelang auf Montage, sodass Justin überwiegend durch die neue Frau erzogen und versorgt wurde. Bereits im Kindergarten tauchten die ersten Verhaltensaufälligkeiten auf, indem Justin, wenn er etwas nicht wollte, trampelte, schrie und sich verweigerte. Er wollte ständig seinen Willen durchsetzen, hatte folglich Wutanfälle und wurde aggressiv gegen sich selbst (beißen, schreien, sowie trampeln) und äußerte, dass er sich den Hals aufschneiden würde.

Zu Hause reagierte der Vater auf dieses Verhalten mit harten Strafen. Er ließ seinen Sohn stundenlang im Katzenklo auf dem Balkon stehen und sperrte ihn ins Kinderzimmer ein. Als Justin einmal sein Bein am Hochbett eingeklemmt hatte und verzweifelt nach Hilfe rief, kam der Vater mit dem Küchenmesser und drohte ihm das Bein abzuschneiden. Alle Interventionen durch die Erzieherinnen im Kindergarten, sowie der zu Rate gezogenen Psychologin, änderten nichts. Mit 6 Jahren war Justin erstmals für 4 Monate in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der sich eine ambulante Therapie anschloss. Allerdings änderte sich nichts an Justins Verhalten, seine Aggressionen und unkontrollierten Wutanfälle waren konstant. Auch die aufsuchende Familientherapie, die ein halbes Jahr später eingesetzt wurde, brachte keine Erfolge.

Stattdessen wurde der Junge wegen fremd- und selbstgefährdendem Verhalten erneut in eine stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen. Mit dem Ergebnis, dass er zukünftig in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung leben soll. Mit 8 Jahren wurde er in einem Kinderheim aufgenommen. In seiner Gruppe lebten 10 Kinder im Alter von 6 bis 17 Jahren. Er teilte sich sein kleines Zimmer mit einem anderen Kind. Zusätzlich wurde für den Jungen eine 1:1 Betreuung mit 40 Stunden wöchentlich organisiert, welche die Teilnahme im Sportverein und in der Schule sichern sollte.

Da sein Verhalten so bedrohlich war, musste immer wieder der Notarzt gerufen werden und Justin wurde häufig übers Wochenende in der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen. Nachdem seine Zerstörungswut, seine Aggressionen, sowie speziellen Machtausübungen gegenüber anderen Kindern, immer massiver wurden, kam es erneut zu einer Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit dem Ergebnis, dass eine andere geeignetere Einrichtung für das Kind gefunden werden muss

Kurze Zeit später fragte uns das zuständige Jugendamt, ob wir uns eine Arbeit mit dem achtjährigen Dennis vorstellen könnten. Wir nahmen den Jungen auf dem Kinderbauernhof auf. Als wir den Jungen kennen lernten, begegnete uns ein kleiner, untersetzter, in seinen Bewegungen stark verlangsamter 11jähriger Junge, der sichtbar unter dem Einluss starker Psychopharmaka stand. Wir nahmen Justin in unserer Wohngruppe auf und wurden mit seinen Verhaltensaufälligkeiten und Entwicklungsdefiziten konfrontiert. So konnte er weder eine Rolle vorwärts oder auf einem Bein stehen, noch freihändig eine Treppe hinunterlaufen. Kleinigkeiten, wie beispielsweise das Bekleckern seines Lieblingsshirts, führten zu heftigen Wutanfällen, bei denen er sich in den Arm biss, weinte, schrie und auf der Stelle trampelte bis seine Nase blutete. Bei Spaziergängen jammerte er ungeduldig, dass er nicht mehr kann, wollte nicht weiterlaufen und steigerte sich in seine Wut hinein. Ein ähnliches Verhalten war auch beim Sport zu beobachten oder bei Schulaufgaben die ihm schwer fielen.

 

Portrait 2 – Dennis

Dennis ist das vierte von sechs Geschwistern. Seine Eltern führten eine von Gewalt geprägte Beziehung, in der sie sich häufig trennten und wieder zusammenfanden. Häufig war die Polizei – unter anderem mit Spezialeinheiten – aufgrund der massiven Gewalt-, Alkohol und Drogenprobleme des Vaters in der Familie zugegen.

Dennis ging mit 3 Jahren in den Kindergarten. Da er bereits zu diesem Zeitpunkt Verhaltensaufälligkeiten zeigte und seine Sprachentwicklung verzögert war, bekam er einen Integrationsplatz. Mit vier Jahren war er, aufgrund der Entwicklungsverzögerung, erstmals in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er konnte keine Regeln einhalten und Grenzen akzeptieren, widersetzte sich und steigerte sich in seine Wut hinein. Er schmiss sich auf den Boden und trat jede Person, die sich ihm näherte. Parallel wurde die Familie durch zwei Familienhelfer begleitet.

Als dann der Junge, mit 7 Jahren, regulär eingeschult wurde, dauerte es nicht lange, bis er von der Schule suspendiert wurde. Er wollte nicht lernen, verweigerte sich und Konlikte eskalierten, indem er die anderen Kinder trat. Folglich wurde Dennis erneut in der KJP untergebracht und medikamentös eingestellt. Da sich aber trotz der installierten Familienhilfe, die Lebensbedingungen für die Kinder in der Familie, nicht änderten, stellten die Eltern den Antrag auf Hilfe zur Erziehung in einer stationären Einrichtung. Hier machte Dennis was er wollte. Er lief weg, ignorierte die Anweisungen der Pädagogen und beschimpfte sie. Als eine Spielsituation mit einem anderen Kind eskalierte, Dennis den Jungen trat, seine ganze Wut an ihm ausließ und gegen die Pädagogen massiven Widerstand leistete, wurde der Notarzt gerufen. Der Rettungsdienst nahm den Jungen mit in die KJP und entließ ihn am selben Nachmittag. Daraufhin stellten die Eltern den Antrag auf geschlossene Unterbringung aufgrund selbst- und fremdgefährdender Verhaltensweisen. Über einige Wochen verblieb nun das Kind in der geschlossenen Abteilung und wurde mit einer starken Medikation – Dennis bekam alle drei Stunden starke Beruhigungsmittel – in den elterlichen Haushalt entlassen.

Diese Kurzportraits zweier Kinder machen deutlich, wieviel Leid und Entbehrungen entwicklungstraumatisierte Kinder und Jugendliche in Ihrer frühen Kindheit erdulden mussten. Entsprechend massiv sind die Auswirkungen, die wir zu Beginn unserer Arbeit, als eine brisante Mischung von problematischen Verhaltensmustern und Entwicklungsrückständen, erleben.

So zeigen die Kinder und Jugendlichen eine geringe Frustrationstoleranz. Diese ist oftmals gepaart mit einem außergewöhnlichen Bewegungsdrang und einer inneren Unruhe über den ganzen Tag hinweg. Sie widersetzen sich ungewöhnlich schnell Anweisungen bzw. Aufgaben.  In der Mehrzahl der Fälle kann man ein eher lustbetontes Verhalten beobachten, verbunden mit geringer Anstrengungsbereitschaft, sowie geringem Konzentrations- bzw. Ausdauervermögen. Gleichzeitig besitzen viele Kinder und Jugendliche teils starke Entwicklungsrückstände in einem oder mehreren Teilbereichen. 

Letztendlich erleben wir diese Kinder und Jugendlichen nicht als eingeschüchterte und verkümmerte kleine Menschen. Im Gegenteil, weil sie von Beginn an weitgehend auf sich allein gestellt waren, haben sie ein außergewöhnlich stark ausgeprägtes Autonomiestreben entwickelt. Dies bedeutet, sie handeln so, wie es ihnen gerade in den Kopf kommt und haben das Vertrauen in Erwachsene weitgehend verloren. Deshalb werden sie sich einer Einflussnahme von Erwachsenen, die bisher keine konstruktive Rolle in ihrem Leben gespielt haben, zu Beginn der Hilfe, weitgehend widersetzen.

Fragen, denen wir als nächstes folgen:

  • Was ist unser Verständnis von Entwicklungstrauma?
  • Welche Wirkungen haben entwicklungstraumatisierende Erfahrungen auf das psychische System?